Fotografie des Gemäldes Vier Personen auf einer Stufe von Bartolomé Esteban Murillo
Urheber:in der Fotografie: unbekannt
Entstehungszeit der Aufnahme: um 1924/25
Technische Angaben: Schwarzweißdruck, 16 x 22,7 cm (Bildmaß), 19,5 x 25,7 cm (Blattmaß)
Provenienz: unbekannt
Inventarnummer: 419158
Kommentar:
Das hier abgebildete Gemälde Vier Personen auf einer Stufe[1] aus den Jahren 1655–60 stammt von dem spanischen Maler Bartolomé Esteban Murillo (1617–1682). Es zeigt einen jungen Mann und eine Frau, die nebeneinanderstehen, während eine ältere Frau mit Brille den Kopf eines am Boden liegenden Kindes hält. Besonders interessant an dieser Fotografie ist der Zustand des Kunstwerks zum Zeitpunkt der Aufnahme: Die Hose des auf dem Boden liegenden Jungen weist einen Riss in der Gesäßpartie auf. Ein kurzer Blick auf den heutigen Zustand des Gemäldes zeigt jedoch deutlich ein großes Loch – nicht nur einen Riss. Tatsächlich wurde 1984 bei einer Reinigung des Werks eine frühere Restaurierung festgestellt.[2] Nicht nur wurden auf der linken Seite ca. zehn Zentimeter Leinwand hinzugefügt, sondern auch das Loch in der Hose des Jungens gänzlich übermalt.[3] Um eine vollständige Überdeckung handelt es sich hier allerdings nicht. Das bedeutet, die Fotografie im Kunsthistorischen Institut Bonn hält einen weiteren Zustand der Veränderung zwischen deutlichem Loch und totaler Übermalung fest. Insgesamt lassen sich demnach vier Zustände des Gemäldes nachvollziehen: Ursprünglich mit deutlichem Loch in der Hose, dann mit hinzugefügter Leinwand und reduziertem Riss (wie auf dem Bonner Fotokarton sichtbar), anschließend mit vollständig übermaltem Loch und schließlich seit der Reinigung 1984 wieder im Originalzustand. Erwähnenswert ist außerdem, dass der hier dargestellte Zustand in der Literatur kaum thematisiert bzw. abgebildet wurde.[4]
Auf der Vorderseite des Fotokartons ist neben den technischen Angaben rechts unter der Fotografie „A. L. N. London“ vermerkt. Die handschriftlichen Annotationen auf der Fotopappe, die auf der Vorderseite auf Deutsch, auf der Rückseite auf Englisch verfasst sind, stammen von August Liebmann Mayer (1885–1944). Das geht aus seiner Unterschrift auf der Rückseite hervor. Mayer war ein renommierter deutscher Kunsthistoriker und war seinerzeit einer der bedeutendsten Experten der spanischen Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts, der zahlreiche Publikationen, darunter auch über Murillo, hervorbrachte.[5] Mit der Abkürzung ist Arthur L. Nicholson aus London gemeint, wie aus verschiedenen Provenienzen hervorgeht.[6] Das Werk hat sich jedoch nur zwischen 1924 und 1925 in Besitz von Nicholson befunden. Dies lässt darauf schließen, dass die Fotografie um 1924/25 datiert werden kann.
Da sich das Gemälde von 1831–1923 im Privatbesitz der Familie Coote in Irland befand, bis es 1923 bei Christie, Manson & Woods in London verkauft wurde [7], sei es lange Zeit vielen Kunstinteressierten nicht bekannt gewesen.[8] 1925 veröffentlichte Mayer einen kurzen Artikel über das Werk, in dem das Gemälde noch in unverändertem Zustand mit großem Loch abgebildet wurde.[9] In demselben Artikel gibt er den Londoner Kunsthandel als Standort an. Zu dieser Zeit wurde auch eine Änderung in den Maßen vermerkt.[10] Diese Abweichungen sind jedoch nicht so groß, dass sie den zehn hinzugefügten Zentimetern Leinwand entsprechen. Die Tatsache, dass Mayer in seiner Publikation von 1925 das Werk noch in seiner originalen Konzeption mit Loch abbildet, der Fotokarton in Bonn jedoch schon einen anderen Übermalungszustand zeigt, obwohl in beiden Fällen London als Standort des Gemäldes angegeben ist, lässt die Möglichkeit offen, dass die malerische Veränderung während der Zeit in London zwischen 1923 und 1925 stattgefunden haben könnte. Für die Publikation könnte Mayer eventuell eine ältere, noch vorhandene Abbildung genutzt haben. Es lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei klären, wie lange das Werk in diesem Zustand verharrte. Möglicherweise wurde das Loch übermalt, da die Darstellung des entblößten Gesäßes eines Kindes als unangebracht oder störend empfunden wurde. [11]
Es ist denkbar, dass die Fotografie im Kontext einer Einschätzung für den damaligen Besitzer oder potenziellen Käufer entstand. Dies ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass Mayers Text auf der Rückseite in Englisch verfasst ist, sondern auch darauf, dass er sich besonders auf die Datierung des Werks fokussiert. Er bezieht auch weitere Werke Murillos ein, um anhand stilistischer Merkmale eine zeitliche Einordnung vorzunehmen. Auch wenn sich nicht rekonstruieren lässt, wie die Fotografie ihren Weg in die Sammlung des Kunsthistorischen Instituts in Bonn gefunden hat, ist sie dennoch ein aufschlussreiches Beispiel dafür, wie viele Informationen solche Dokumente für die Rekonstruktion von der Geschichte von Kunstwerken liefern können.
Lena Baumgartl
Anmerkungen:
[1] Im Laufe der Zeit hat sich der Titel für das Gemälde mehrfach geändert. 1838 war es beispielsweise in der British Institution als „A Group of Peasants“ ausgestellt [vgl. N.N 1925, S. 108.]. In anderen Publikationen finden sich auch die Titel „Genreszene“ [vgl. Mayer 1925, S. 24–26)] oder „A Family Group“ [vgl. N.N 1925, S. 108.]. Heutzutage befindet sich das Werk im Kimbell Art Museum, Fort Worth, und wird unter dem Titel „Four Figures on a Step“ präsentiert.
[2] Das Werk befindet sich seit 1984 im Besitz des Kimbell Art Museum in Fort Worth, Texas, wo auch die Reinigung des Gemäldes durchgeführt wurde. [Vgl. kimbellart.org unter „Conservation“ und unter „Provenance“.]
[3] Vgl. kimbellart.org unter „Conservation“.
[4] In einer E-Mail-Nachricht von Nancy Edwards, Kuratorin für Europäische Kunst am Kimbell Art Museum, vom 6. Juni 2025 wurde erwähnt, dass das Museum Kenntnis von dem Übermalungszustand hat, der auf dem Bonner Fotokarton abgebildet ist und dass dieser bereits in Publikationen und Zeitschriften thematisiert wurde. Im Zuge dieser Recherchen konnte jedoch keine Literatur dazu ausfindig gemacht werden.
[5] Vgl. Fuhrmeister/Kienlechner 2015, S. 143.
[6] Vgl. Iñiguez 1981, S. 310 und kimbellart.org unter „Provenance“.
[7] Vgl. ebd.
[8] Vgl. Mayer 1925, S. 25.
[9] Vgl. ebd., S. 26.
[10] Vgl. Iñiguez 1981, S. 310.
[11] In der Forschung existieren mehrere Interpretationsansätze für das Gemälde. Darunter findet sich auch die Meinung, das Werk zeige eine Kupplerin, eine sogenannte Celestina, oder es beziehe sich auf Prostitution oder gar Pädophilie. [Vgl. Brooke/Cherry 2001, S. 200; Brown 1998, S. 228; Kientz 2022, S. 102] Jonathan Brown geht sogar so weit zu behaupten, der Blick auf das Gesäß des Jungen durch das Loch in der Hose deute auf verbotene sexuelle Praktiken hin, die möglicherweise auf die Vorlieben eines Auftraggebers anspielten. [Vgl. Brown 1998, S. 228.] Vor diesem Hintergrund erscheint eine Übermalung des Lochs als Maßnahme zur Milderung der provokativen Wirkung durchaus nachvollziehbar.
Literatur & Internetquellen:
Brooke/Cherry 2001
Xanthe Brooke & Peter Cherry: Kat.-Nr. 10: Gruppenbild, um 1655–1660, in: Murillo. Kinderleben in Sevilla, hg. von den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen (Ausst.-Kat. München, Alte Pinakothek, 31 Mai bis 26. August 2001), München 2001, S. 200
Brown 1998
Jonathan Brown: Painting in Spain 1500–1700, New Haven/London 1998
Fuhrmeister/Kienlechner 2015
Christian Fuhrmeister & Susanne Kienlechner: August Liebmann Mayer (1885–1944) – Success, Failure, Emigration, Deportation and Murder, in: Ines Rotermund-Reynard (Hg.): Echoes of Exile. Moscow Archives and the Arts in Paris 1933-1945, Berlin 2025, S. 139–159
Iñiguez 1981
Diego Angulo Iñiguez: Murillo. Catálogo Critico, Bd. 2, Madrid 1981
Kientz 2022
Guillaume Kientz: Catalogue, in: Murillo. From Heaven to Earth, hg. von dem Kimbell Art Museum (Ausst.-Kat. Forth Worth, Kimbell Art Museum, 18. September 2022 bis 29. Januar 2023), New Haven 2022, S. 64–137
kimbellart.org
N. N.: Four Figures on a Step, c. 1655–60, kimbellart.org, URL: https://kimbellart.org/collection/ap-198418 [Abruf: 29.06.2025]
Mayer 1925
August Liebmann Mayer: Zum Werk von Velasquez und Murillo, in: Zeitschrift für Bildende Kunst 58 (1925), S. 24–26
N. N. 1925
N. N.: A Family Group by Murillo, in: Bulletin of the Art Institute of Chicago 19, Nr. 9 (1925), S. 107f.